Ein großflächiger, länger dauernder Stromausfall im größten zusammenhängenden Stromnetz der Welt ist laut vielen europäischen Experten nur eine Frage der Zeit. Dabei handelt es sich keineswegs um Angstfantasien von Technik-Nerds: Am 8. Jänner 2020 war es schon einmal beinahe so weit.
Um 14.04 Uhr und 25 Sekunden lösen ungewöhnlich hohe Stromexporte aus dem Südosten Europas Richtung Westen – insbesondere nach Frankreich, Spanien und Italien – von in Summe etwa 6000 Megawatt den Überlastschutz einer Stromkupplung im Umspannwerk Ernestinovo nahe der Stadt Osijek an der Drau aus. Hier kommen Hochspannungstrassen aus Ungarn und anderen Teilen Kroatiens, aber auch 400-Kilovolt-Leitungen nach Serbien und Bosnien-Herzegowina zusammen. Der massive Stromfluss verteilt sich auf andere Leitungen, die der Beanspruchung ebenfalls nicht gewachsen sind: Binnen Sekunden trennen sich in einer Kettenreaktion weitere Anlagenteile zum Selbstschutz vom Netz. Die Kaskade erfasst letztlich vierzehn Stromverbindungen, die sich abschalten.
Das Netz zerfällt
Die Folgen sind dramatisch: Das europäische Stromnetz, das größte weltweit, zerbricht nur 43 Sekunden nach dem Vorfall in Ostkroatien in zwei Teile. Im Nordwesten Europas kommt es zu einer Leistungsunterdeckung, wodurch die Frequenz auf 49,746 Hertz sinkt. Im Südosten steigt die Frequenz auf 50,6 Hertz an. Einen solchen „Split“ gab es erst ein einziges Mal in der Geschichte der europäischen Stromversorgung: Im November 2006 konnte nach einer (geplanten) Leitungsabschaltung in Norddeutschland nur die sofortige Netztrennung von zehn Millionen Stromkunden – euphemistisch „Lastabwurf“ genannt – einen flächendeckenden Blackout verhindern.
Knapp vorbei
Auch im vergangenen Jänner kann der GAU um Haaresbreite vermieden werden: Europaweit reagieren die Schaltzentralen der Netzbetreiber schnell und richtig. In Österreich werden binnen Sekunden Laufkraftwerke, Pumpspeicher (siehe Seite 36) und Batterien ans Netz gebracht, um die Unterdeckung von zeitweise knapp 300 Millihertz auszugleichen. In Frankreich und Italien werden Industriekunden – die aufgrund entsprechender Bonusverträge solchen Maßnahmen zugestimmt haben – abgeschaltet, um den Strombedarf kurzfristig zu senken. Um 15.08 Uhr können die beiden europäischen Strominseln wieder synchronisiert und die Netze zusammengeschaltet werden. Europa ist noch einmal davongekommen, obwohl der Vorfall gemäß der Klassifizierung des Verbandes Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (European Network of Transmission System Operators for Electricity, ENTSO-E) die dritte (Emergency) von vier (Blackout) Warnstufen erreicht hatte.
„Werden den Blackout erleben“
Grund zum Aufatmen ist das aber keiner. Für Herbert Saurugg, fünfzehn Jahre Berufsoffizier und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge, ist klar: Der Blackout kommt. „Ich beschäftige mich seit zehn Jahren mit den Entwicklungen im europäischen Stromversorgungssystem und gehe – auch angesichts dessen, was in den nächsten Jahren geplant ist, vor allem mit der deutschen Energiewende – fix davon aus, dass wir das erleben werden“, prophezeit Saurugg im Interview auf dem Youtube-Kanal von schutztechnik.com.
Finster ist fix
Auch das Österreichische Bundesheer geht davon aus, dass dieses Szenario mit Sicherheit eintreten wird. Die Sicherheitspolitische Jahresvorschau 2020 schätzt die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Blackouts innerhalb der nächsten fünf Jahre auf einhundert Prozent. Großwetterereignisse und mechanische Beschädigungen von Hochspannungsleitungen können dafür ebenso Auslöser sein wie terroristische Attacken, Hackerangriffe, technische Gebrechen oder ein hybrid geführter militärischer Angriff auf Europa.
Gefahr Energiewende
Auch die Umstellung auf erneuerbare Energieformen birgt laut Heeresexperten Gefahren: War das System früher von konventioneller, zentralisierter und fossiler Energieproduktion geprägt, so speisen heute Zigtausende Windkraft- und Photovoltaikanlagen ihre volatilen Energiemengen ins Netz. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren wesentlich verstärken: Bis 2030 ist in Österreich ein Ökostromausbau von 27 Terawattstunden (TWh) vorgesehen. Davon sollen elf TWh (11 000 MW Leistung) auf Photovoltaik (PV) entfallen, zehn TWh (5000 MW) auf Windkraft, fünf TWh (1250 MW) auf Wasserkraft und eine TWh (200 MW) auf feste Biomasse.
Nichts geht mehr
Das Bundesheer zeichnet ein apokalyptisches Bild von den Auswirkungen eines plötzlich eintretenden, flächendeckenden und länger andauernden Stromausfalls. Ausgefallene Ampeln verursachen ein totales Chaos auf den Straßen, Tausende Menschen sind in U-Bahnen und Zügen, in Fahrstühlen, auf Sesselliften oder in Bergbahnen gefangen. Heizungen und Kühlschränke fallen aus. Die Kommunikation kommt binnen weniger Stunden zum Erliegen, sowohl im Festnetz als auch per Handy geht nichts mehr. Die Lebensmittel-, Treibstoff- und Medikamentenversorgung fällt weitgehend aus, weil Supermärkte, Tankstellen und Apotheken nicht mehr öffnen können und die Bankomatbezahlsysteme nicht mehr funktionieren.
Heer warnt vor „Kontrollverlust“
Notstromaggregate in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen laufen noch wenige Tage. Ist diese Energieversorgung mangels Spritnachschub erschöpft, werden die Folgen unüberschaubar. Die Wasserver- und auch -entsorgung versiegt nach kurzer Zeit, weil die Sammelbehälter über Pumpen nicht mehr befüllt bzw. geleert werden können. Sollten Unsicherheit, nächtliche Dunkelheit und Versorgungsengpässe länger andauern, droht ein Zustand, den Generalmajor Bruno Hofbauer, Leiter der Direktion Fähigkeiten und Grundsatzplanung im Generalstab des Bundesheeres, gegenüber der „Presse“ als „generellen Kontrollverlust“ beschreibt: „Die Erfahrung am Beispiel der Ereignisse rund um den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 in den USA zeigt, dass sich schon nach wenigen Tagen das Recht des Stärkeren durchsetzen wird und es zu einem starken Anstieg von kriminellen Handlungen kommt.“ Nach spätestens einer Woche Blackout sei mit der „gesundheitlichen Schädigung vieler Menschen“ zu rechnen.
Kasernen als Notversorger
So ist es einerseits beruhigend, dass das Bundesheer damit begonnen hat, landesweit einhundert militärische Einrichtungen mit Notstromanlagen und Funkeinrichtungen krisenfest zu machen und auch als Notversorgungsstellen für die Bevölkerung einzurichten. Andererseits stellt sich die Frage, warum man erst jetzt auf diese Idee gekommen ist, deren Umsetzung fünf Jahre dauern soll. Bis Ende 2022 werden immerhin 27 Heeresliegenschaften über die erforderliche Kasernenautarkie verfügen.
Rascher Netzausbau
Wie lang anhaltend und wie folgenschwer ein großer Ausfall ist, entscheidet aber auch die Qualität und Sicherheit der heimischen Stromversorgung. An der Behebung der massiven Störung vor etwas mehr als einem Jahr waren die System Operators im Wiener Kontrollzentrum der Austrian Power Grid (APG) federführend beteiligt. APG betreibt mit rund 600 Mitarbeitenden das 3400 Kilometer lange überregionale Stromnetz in Österreich und wickelt den internationalen Energieaustausch ab. In den nächsten zehn Jahren wird APG mehr als drei Milliarden Euro in den Aus- und Umbau der Netzinfrastruktur investieren, die gesamte E-Wirtschaft wird etwa achtzehn Milliarden für die bevorstehende Energiewende aufbringen. Gerhard Christiner, Technikvorstand der APG: „Wenn der gesamte Strombedarf aus erneuerbaren Energien gedeckt werden soll – in Österreich bis 2030, europaweit bis 2050 –, erfordert das dringendst einen beschleunigten Ausbau der Strominfrastruktur, gesamtsystemische Planungsansätze sowie die Nutzung neuer Flexibilitätsoptionen in Sektoren wie Gewerbe und Industrie.“
Verbund-CEO Michael Strugl im Interview
„Wir müssen alle dazu beitragen, die Energiewende gemeinsam zu schaffen“
Die Verbund AG ist Österreichs führendes Energieunternehmen und einer der größten Erzeuger von Strom aus Wasserkraft in Europa. Seit Anfang 2021 steht der Oberösterreicher Michael Strugl als Vorstandsvorsitzender an der Spitze des Konzerns.
Herr Strugl, die Energiewende von fossilen zu erneuerbaren Energieträgern setzt massive Investitionen in das Stromnetz voraus. Was sind die Schwerpunkte?
VERBUND plant 2,3 Milliarden Euro Investitionen in den kommenden drei Jahren (2021–2023), davon 1,4 Milliarden Erweiterungsinvestitionen und davon wiederum 884 Millionen Euro Instandhaltungsinvestitionen. Über den Investitionsplan hinaus hat VERBUND beschlossen, mehr als eine halbe Milliarde Euro in den Bau der Pumpspeicherprojekte Limberg III und Reißeck II+ zu investieren. Das hat nicht nur immense energiewirtschaftliche Bedeutung für eine nachhaltige und sichere Stromversorgung – das ist ein gewaltiger Schub für die heimische Wirtschaft, um die COVID-19-bedingte Wirtschaftskrise zu überwinden. Für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit gilt es, Netzinfrastruktur und Energiespeicher im gleichen Tempo auszubauen. Unser Tochterunternehmen Austrian Power Grid (APG) investiert für den Netzausbau rund 3,5 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren.
Energie ist jetzt schon deutlich teurer geworden. Was bedeuten so große Aufwendungen zum Netzausbau für den künftigen Strompreis?
Der Stromnetzausbau spielt im Moment keine große Rolle. Der starke Anstieg der europäischen Großhandelspreise ist ein Resultat der stark gestiegenen Weltmarktpreise für Primärenergie (Gas und Kohle) und der stark gestiegenen Preise für CO2-Zertifikate, die sich im Zuge des europäischen ETS-Systems bilden. Der starke Anstieg der Primärenergiepreise, insbesondere des Gaspreises, ist darauf zurückzuführen, dass wir in Europa ein knappes Gasangebot und niedrige Gasspeicherstände haben. Die Preise für CO2-Zertifikate sind gestiegen, weil das europäische ETS-System im Sinne des Klimaschutzes eine laufende Verknappung der CO2-Zertifikate vorsieht und gleichzeitig eine höhere Nachfrage nach CO2-Zertifikaten gegeben ist, weil der Gaspreis deutlich mehr gestiegen ist als der Kohlepreis und daher mehr Kohle zur Stromproduktion verwendet wird.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Weichenstellungen im Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz?
Das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz wurde Mitte Dezember 2021 novelliert. Die wesentlichen Züge des Pakets – die differenzierte Förderkulisse, die Definition technologiespezifischer Ausbaupfade, die einen gleichzeitigen Ausbau aller Erzeugungsformen sicherstellt, und die Einführung einer wettbewerbsorientierten Marktprämie – sind weiterhin erhalten geblieben. Neben dem Ökostromförderbeitrag wird nun im kommenden Jahr auch die Ökostromförderpauschale ausgesetzt. Angesichts der massiv steigenden Energiepreise ist das eine sinnvolle Maßnahme, um Verbraucher zielgerichtet zu entlasten, ohne dabei direkt in den an sich gut funktionierenden Markt einzugreifen.
Größere Projekte der Energiewirtschaft haben in der jüngeren Vergangenheit oft ein Jahrzehnt und mehr vom Planungsbeginn zur Inbetriebnahme gedauert. Wie soll sich das alles bis zum Jahr 2030 ausgehen?
Die EU will bis 2050 klimaneutral werden, Österreich bereits 2040. Ab 2030 soll der Gesamtstromverbrauch in unserem Land bilanziell gänzlich aus erneuerbaren Energiequellen gedeckt sein. Um die Ausbauziele bis 2030 zu erfüllen, sind alle in diesem Land gefragt: von der Politik über die Industrie und die Wirtschaft bis zu jeder Bewohnerin und jedem Bewohner Österreichs. Wir alle können und müssen dazu beitragen, die Energiewende gemeinsam zu schaffen.
Welche Hürde muss als erste angegangen werden?
Die Zukunft gehört Wasserkraft, Wind- und Sonnenkraft. Unverzichtbar dafür sind klare und berechenbare politische Rahmenbedingungen. Große Investoren haben die wirtschaftliche Bedeutung und den langfristigen Sinn der Energiewende längst erkannt – ein investitionsfreundliches Klima in diesem Sektor würde den Aufschwung enorm beschleunigen.