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Gütertransport in Europa: Ist der Zug am falschen Gleis?

24.11.2021, Lesezeit 4 Minuten
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Dabei klang alles ganz logisch: Mehr Gütertransport auf der Schiene würde lärmgeplagte Anrainer, verstopfte Fernverkehrsstraßen und die vom Dieselruß geschwängerte Atemluft entlasten. Doch auch 2021, im europäischen Jahr der Schiene, stehen viele Signale auf Rot.

Die Wirtschaftsleistung in Europa hat in den vergangenen zwanzig Jahren – Finanzkrise 2008 hin, Coronakrise 2020 her – stark zugenommen. Und damit auch der Güterverkehr, der allerdings politischen Sonntagsreden seit Jahrzehnten trotzt und zu fast achtzig Prozent auf der Straße erfolgt. Deutlich unter zwanzig Prozent rollen auf der Schiene durch Europa, in Österreich liegt der Bahntransport etwas besser, aber dennoch mit unter dreißig Prozent fernab von den ambitionierten Zielen. Und der Trend? Geht eindeutig in Richtung Straße; die Rollende Landstraße, also die Verladung ganzer Lkw auf die Schiene, hat seit 2010 sogar mehr als die Hälfte ihrer Transporte eingebüßt (von fast 350 000 auf 154 000 Straßenfahrzeuge im Jahr 2019). Aber woran liegt es, dass Politik, Verkehrsexperten und Anbieter trotz Klimadebatte den Güterzug als Transportmittel nicht auf Schiene bringen?

Strom, Spur, Systeme

Eine der Ursachen ist die EU-Verkehrspolitik. So gibt es auch heute noch in Europa verschiedene Bahnstromstandards, Zugsicherheitssysteme, Spurweiten und andere Detailvorschriften, die den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu allem anderen als zu einer Gemeinschaftsangelegenheit machen. Ein Beispiel: Lokführer von Güterzügen müssen ein bestimmtes Niveau (B1) der jeweiligen Landessprache nachweisen können und auf die jeweilige Strecke eingeschult sein. Sonst muss der Fahrer an der Grenze gewechselt werden. Ein Lkw fährt in der Zeit quer durch den ganzen Kontinent, ohne an den Grenzen auch nur anzuhalten. „Jede einzelne Grenze ist ein Systemübergang in organisatorischer, technischer und auch kommerzieller Hinsicht und ein Risiko für ungeplante Aufenthalte und Verzögerungen“, zitiert die mittlerweile eingestellte Rechercheplattform „addendum“ den ehemaligen Chef der ÖBB-Cargo, Friedrich Macher.

Flickenteppich statt Netzwerk

Doch nicht nur beim Güter-, auch beim Personenverkehr kommt der Zug nicht so recht auf Schiene. „Europäisches Hochgeschwindigkeitsschienennetz: keine Realität, sondern ein unwirksamer Flickenteppich“, lautet der ungewöhnlich drastische Titel eines Sonderberichts des europäischen Rechnungshofs aus dem Jahr 2018. Die umfangreiche Prüfung erstreckte sich auf sechs Mitgliedstaaten und auf die Analyse der Ausgaben für über 5000 Kilometer Infrastruktur bei zehn Hochgeschwindigkeitsstrecken innerhalb von Mitgliedstaaten und vier grenzübergreifenden Verbindungen, was rund der Hälfte aller Hochgeschwindigkeitsstrecken in Europa entspricht. So heißt es unter Punkt IV: „Es gibt kein europäisches Hochgeschwindigkeitsschienennetz, und die Kommission verfügt nicht über rechtliche Instrumente und über Befugnisse im Rahmen der Entscheidungsfindung, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten bei der Schaffung der in der TEN-V-Verordnung festgelegten Kernnetzkorridore rasche Fortschritte erzielen. Folglich besteht lediglich ein Flickenteppich aus Hochgeschwindigkeitsstrecken der einzelnen Mitgliedstaaten, die jeweils isoliert geplant und gebaut werden. Dieser Flickenteppich wurde und wird ohne eine sachgemäße grenzübergreifende Koordinierung errichtet. [...] Das bedeutet, dass mit der EU-Kofinanzierung von Infrastrukturinvestitionen für den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr ein geringer europäischer Mehrwert erzielt wird.“

Technologie von gestern

Nun braucht der Güterverkehr nicht zwingend Hochgeschwindigkeitsnetze, eine europäische Harmonisierung von Technik und Organisation wäre schon hilfreich. Gefahr für die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene droht mittlerweile aber auch von anderer Seite: Das Wirtschaftssystem habe sich in den vergangenen Jahren verändert, warnen Experten wie der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher: „Wir haben heute eine viel differenziertere Industrie, mit kleinen Warengruppen und geringer Warenmenge, die im Transport viel empfindlicher ist.“ Die Bahn habe ihre Vorteile auf der Langstrecke und im Schwerverkehr, aber sei keine Lösung der aktuellen Probleme: Der Schienengüterverkehr sei eine Technologie von gestern, die mit dem heutigen Konsumverhalten – heute bei Amazon bestellen, morgen konsumieren – nicht mehr mithalten könne.

Die Zukunft liegt unter Tage

In Österreich sind derzeit gleich drei große Bahntunnelprojekte im Bau. Der Brenner-Basistunnel wird die transitgeplagten Tiroler Gemeinden entlasten, Semmering- und Koralmtunnel werden die bahntechnische Erschließung des Südens ins 21. Jahrhundert katapultieren und die Fahrzeit von Klagenfurt nach Wien von viereinhalb auf deutlich unter drei Stunden senken. Diese neue Hochleistungsstrecke wird dann Teil der Baltisch-Adriatischen Achse, die die Mittelmeerhäfen Triest, Rijeka und Koper mit Danzig und der Ostsee verbindet.

Keine Klimaziele ohne Schiene

Alle drei Megaprojekte haben eines gemeinsam: Sie sollen helfen, endlich das politische Versprechen der ökologisch sinnvollen Verlagerung des Gütertransports weg von der Straße auf die Schiene einzulösen. Da geht es aber nicht nur um politische Glaubwürdigkeit, sondern auch um bare Münze: Wenn Österreich seine Klimaziele weiterhin drastisch verfehlt, drohen schmerzhafte und vom Steuerzahler sicher nicht goutierte Strafzahlungen. Obwohl Österreich mit 218 Euro pro Kopf mehr in die Bahn investiert als jedes andere EU-Land, ist man dennoch von diesem Ziel weit entfernt. Und der Trend beim Güterverkehr geht in die falsche Richtung. Laut ÖBB und Bahnbefürwortern ist daran der „verzerrte Wettbewerb“ zwischen Straße und Schiene schuld, der durch den steuerlich begünstigten Diesel und eine fehlende flächendeckende Lkw-Maut gegeben sei. Wie auch immer: Mehr Güterverkehr auf der Schiene ist klimapolitisch alternativlos. „Ohne eine Verkehrsverlagerung auf die Schiene werden wir unsere Klimaziele niemals erreichen. Dafür brauchen wir eben eine moderne Infrastruktur“, sagt auch Christian Gratzer vom VCÖ.

Teuer, aber alternativlos

Und bei der lässt sich der Staat nicht lumpen. Der Brennertunnel unter dem Alpenhauptkamm wird mit 64 Kilometern Länge nicht nur der längste Eisenbahntunnel, sondern überhaupt der längste jemals gebohrte Tunnel der Welt. Mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde wird die Fahrzeit von Innsbruck nach Franzensfeste nur 25 Minuten betragen. Das kostet knapp zehn Milliarden Euro, rund 145 Millionen pro gegrabenem Kilometer. Pro Minute Fahrzeitersparnis bedeutet das 169 Millionen Euro.

Zwischen Atlantik und Klagenfurt

Der Semmeringtunnel ersetzt die 165 Jahre alte UNESCO-Weltkulturerbestrecke, durch ihn sollen ab 2026 Güterzüge mit 1600 Tonnen Gesamtgewicht rollen. Drei Milliarden Euro kosten die beiden 27 Kilometer langen Tunnelröhren, 110 Millionen jede Fahrminute, die man sich erspart. Im selben Jahr soll auch die Koralmbahn ihren Betrieb aufnehmen. Das Herzstück, der Koralmtunnel, wird mit 32,9 Kilometern der sechstlängste Tunnel der Welt um 5,4 Milliarden Euro. „Inklusive Finanzierung kostet der Koralmtunnel doppelt so viel wie der Ausbau des Panamakanals“, bemerkte dazu vor Jahren Verkehrsprofessor Knoflacher: „Das ist absurd. Der eine verbindet Atlantik und Pazifik miteinander, der andere Klagenfurt und Graz.“

Bahn schafft neuen „Wirtschaftsraum Süd“

Allerdings ist die eingesparte Fahrminute mit 72 Millionen Euro wieder vergleichsweise günstig, denn die Fahrzeit zwischen den beiden Landeshauptstädten verkürzt sich von – im günstigsten Fall – zwei Stunden (über Bruck/Mur!) auf 45 Minuten. Experten des Joanneum Research Institutes erwarten langfristig sogar das Entstehen eines neuen Wirtschaftsraumes Südösterreich.

Im Interview des Blogs BAUGESCHICHTEN spricht Peter Gal, Vorstand und oberster Bahnbauer der Swietelsky AG, Klartext über die Herausforderungen im internationalen Schienennetz und über die Klimawende. Das Interview finden Sie hier

  Peter  Schöndorfer

Redaktion

Peter Schöndorfer

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